10.2.2004: Forschung CH

Das «Kalkrätsel»




Thomas Wohlgemuth, Andreas Gigon

Pflanzenlisten von verschieden grossen Gebieten in Zentraleuropa weisen in der Regel mehr basenzeigende als säurezeigende Pflanzen auf. Dieses offensichtliche Übergewicht an Kalkpflanzen wird als «Kalkrätsel» bezeichnet und ist derzeit Anlass für eine lebhafte wissenschaftliche Diskussion. Entsprechende Muster findet man auch für die Schweizer Flora und für die Waldpflanzenarten.


Ein altes Thema in der Botanik ist die Frage, weshalb Pflanzenarten entweder nur auf basischen oder nur auf sauren Substraten vorkommen. Neue Aktualität erfährt die Frage durch die Feststellung, dass in vielen Gebieten auf der Welt, besonders aber in den gemässigten Breitengraden, die Artenlisten von Basenzeigern länger sind als jene von Säurezeigern. Die Ungleichheit der Artenvielfalt bezüglich kalkreichen und kalkarmen Substraten in einer Region (z.B. Kalkflora vs. Silikatflora) wird nach einem Vorschlag von Jörg Ewald (Folia Geobotanica 38, 357-366; 2003) als «Kalkrätsel» bezeichnet. Als elegante Lösung des Rätsels schlägt Ewald eine vererbte Artenareal-Beziehung als Hypothese vor. Das Übergewicht der Basenzeiger in Zentraleuropa sei das Resultat einer ökologischen Drift, welche ihren Ursprung in den Eiszeiten bzw. im mehrmaligen Ausdehnen und Zurückziehen der Gletscher während dem Pleistozän hat. Damit hätten die Flächenanteile der kalkreichen Substrate zu- und die Anteile kalkarmer Standorte abgenommen. Viele Säurezeiger seien seit diesem Substrat-Flaschenhals regional verschwunden.
Anhand von Datenbanken zur Waldvegetation und zur Pflanzenverbreitung der Schweiz testeten wir die Ungleichheit der Floren und fanden ähnliche Muster. Bei den Waldgesellschaften erstaunt, dass die Liste der Kalkzeiger trotz deutlichem Übergewicht der kalkarmen Waldstandorte überwiegt. In den meisten Kartierflächen des Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen der Schweiz hat es mehr Basen- als Säurezeiger. Gerade umgekehrt ist es allerdings in den Berggebieten der Zentralalpen auf Silikatunterlage. Die jeweiligen Artenverteilungen in Pflanzengesellschaften und in regionalen Floren der Schweiz werden mit der Habitatsvielfalt erklärt und stimmen recht gut mit Ewalds Hypothese überein. Wir hinterfragen einige Annahmen der «vererbten Arten-Arealbeziehung», z.B. die Substratbedingungen vor dem Pleistozän und die Rolle der Habitatvielfalt anstelle der zwei zur Diskussion gestellten Habitatklassen.

Keywords:
Floristische Artenvielfalt, Kalkrätsel, Schweiz, Wald, Alpen

Art der Publikation:
Fachpublikation

Literatur:
Wohlgemuth T., Gigon A., (2003): Calcicole plant diversity in Switzerland may reflect a variety of habitat templets. Folia Geobot. 38, S. 443-452.
www.swisswebflora.ch

Kontaktadresse:
Tom Wohlgemuth, Eidg. Forschungsanstalt WSL, Zürcherstr. 111, CH-8903 Birmensdorf
tom@wsl.ch
Tel: +41 (0)1 739 2317
Fax: +41 (0)1 739 2215

Zurück zur Liste